Nationalparkthemenjahr 2018: „Muscheln und Schnecken“ , Folge 1

100.000 Muschelarten gibt es auf der ganzen Welt, nur 15 davon im Nationalpark Wattenmeer. Trotzdem spielen die Weichtiere mit der harten Schale eine zentrale Rolle in diesem Ökosystem. Ihre wöchentliche Filterleistung entspricht dem gesamten Wasservolumen des Wattenmeeres, sie sind also eine große biologische Kläranlage. Anlässlich des Themenjahres „Muscheln und Schnecken“ wird Biologe Rainer Borcherding monatlich über die Welt der Weichtiere im Nationalpark Wattenmeer berichten.

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Auf dem Wattboden eingefrorene Strandschnecken Foto: SW; Borcherding

Der ewige Wechsel von Ebbe und Flut macht das Wattenmeer zu einem Lebensraum der Extreme. Besonders ungünstig sind die Bedingungen im Winter, wenn eisige Luft bei Ebbe den Wattboden gefrieren lässt. Frost ist ein Phänomen, mit dem Meerestiere eigentlich kaum zu tun haben, denn selbst das Polarmeer gefriert nur an der Oberfläche.

Im Wattenmeer ist dies anders: Hier reichen schon ein paar klare Winternächte, und die Uferzone gefriert bei Ebbe. Festsitzende Muscheln und auf Uferfelsen lebende Schnecken können nicht fliehen. Sie müssen den Frost „aussitzen“ – und dabei möglichst überleben. Bei der Strandschnecke, die in der obersten Gezeitenzone lebt und im Winter oft im Eis festfriert, kann der ganze Körper gefrieren. Das lebende Zellinnere wird durch Glyzerin, Zucker und Aminosäuren vor dem Gefrieren geschützt. Die Zwischenräume zwischen den lebenden Zellen kristallisieren zu Eis. Dieses „kontrollierte Einfrieren“ erlaubt es der Strandschnecke, Temperaturen von unter minus 15 Grad zu überleben! Da Strandschnecken auch im Winter leicht zu finden sind, verspeisen hungrige Silbermöwen dann oft auch die vereisten Schalentiere. Im Kaumagen werden die Schalen zermahlen; doch ganz selten gelangt eine einzelne Schnecke lebend im ausgewürgten Speiballen zurück ans Tageslicht.

Im Wattenmeer werden die Strandschnecken meist nur ein bis zwei Jahre alt, im Helgoländer Felswatt über fünf Jahre. Vermutlich fehlt ihnen auf dem Watt der Halt und sie werden zu Tode gerollt. Eine noch skurrilere Todesursache sind „Huckepack-Austern“: Klebt sich eine Larve der Pazifikauster auf einer Strandschnecke fest, fällt diese spätestens im zweiten Jahr durch das Gewicht der wachsenden Auster wie eine Schildkröte auf den Rücken und verhungert – ein tragischer Tod im Wechselspiel zweier Mollusken.

Rainer Borcherding, Schutzstation Wattenmeer

 

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Eine Pazifische Auster, die noch weitaus grösser wachsen wird, hat sich auf einer Strandschneckenschale festgesetzt. Foto:SW